(aufbewahrt im Hesinde-Tempel von Khunchom, datiert auf den 15. Tag der Rondra 1032 nach Bosparans Fall)
Es ist der Wille der allwissenden Göttin, der Mutter der Weisheit, unserer aller Herrin Hesinde, dass nichts im Verborgenen bleibt, sondern alles, sei es auch noch so schrecklich, dem Wissen und der Kunde aller Aventurier zugänglich gemacht wird, damit jeder sich ein Urteil bilde über die Welt in ihrer Gesamtheit. So habe ich mich denn schweren Herzens entschlossen, der Welt die seltsamen Begebenheiten mitzuteilen, die sich auf den verschlungenen Pfaden meines Lebens ereignet haben.
Geboren wurde ich in Rashdulunter der freundlichen und wohlwollenden Sonne eines Tages im Boron (Es war der 20. Tag des Boron im Jahre 1010 nach Bosparans Fall, um genau zu sein).
Ich war das dritte Kind meiner Eltern. Mein Bruder Halif war bereits acht, als ich zur Welt kam und schon dazu auserkoren, den väterlichen Betrieb, eine Tischlerei, zu übernehmen, wenn er denn volljährig sein würde. Meine ältere Schwester Alisha war nur ein Jahr jünger als Halif und die Freude meiner Kindheit. Sie war meine Vertraute und liebste Spielgefährtin in den ersten Jahren meines Lebens. Zwei Jahre nach meiner Geburt brachte meine Mutter noch ein Mädchen zur Welt: Zenna. Sie war das genaue Gegenteil von Alisha. Während Alisha ruhig, besonnen und vorsichtig war, war Zenna herausfordernd, leichtsinnig und immer zu Streichen aufgelegt. Dennoch liebte ich sie beide wie man Schwestern nur lieben kann.
Als ich neun Jahre alt war, fing Halif eine Lehre bei unserem Vater an.
Nur drei Jahre später überraschte ich meine Schwester Alisha dabei, vor unserem Haus einen Verehrer zu küssen. Ich beging die Unvorsichtigkeit, meinen Eltern davon zu erzählen und brachte so eine Lawine ins Rollen. Meine Schwester wurde dazu angehalten, den uns Unbekannten zu heiraten. Mir war Mahudh ibn Lamishal von Anfang an unsympathisch. Heute nehme ich an, dass es damals nur kindliche Eifersucht wegen einer „weggenommenen“ Schwester war, die mich zu der Überzeugung brachte, in Mahudh eine Art Dämon zu sehen, der sich meiner Schwester bemächtigte, um sie zu vernichten.
Meine Eltern erschienen mir in dieser Zeit wie Komplizen des Dämons, die meine Schwester noch in seine Arme drängten. Als Alisha schliesslich noch eine Tochter bekam, war die Intrige perfekt. Zwar war die kleine Neta ein Ausmass an Schönheit, denn immerhin war sie Alishas Tochter, aber ihr Vater, der nun immer mehr Macht über Alisha zu erlangen schien, hatte nun auch einen konkreten Grund, über sie zu bestimmen.
So ergab es sich, dass ich schweren Herzens und eine weinende Zenna zurücklassend, die ich als einzige in meinen Plan eingeweiht hatte, mein Elternhaus für immer verliess. Oh, hätte ich doch damals nicht diesen törichten Entschluss gefasst. Noch wenn ich diese Zeilen schreibe, höre ich dasWeinen meiner kleinen Schwester, dass mir das Herz im Leibe zerreissen möchte. Wie konnte ich damals nur so grausam sein und sie allein lassen? Ich muss für einige Zeit die Feder zur Seite legen. Die Gefühle der Vergangenheit schmerzen so sehr, dass ich nicht mehr weiter schreiben kann.
Die nächsten Monate waren eine schwere Probe, denn ich geriet auf unheilvolle Weise unter Phexens umfassenden Einfluss: Nachdem ich von Rashdul bis nach Khunchom gekommen war, waren die wenigen Silberstücke, die ich von zu Hause mitgenommen hatte, aufgebraucht. Ich bemühte mich vergeblich, eine Lehrstelle zu finden, aber da ich meine Herkunft nicht preisgeben konnte und somit ein Junge mit unsicherer Vergangenheit war, wollte mich niemand der Handwerker in Khunchom in die Lehre nehmen.
So musste ich denn versuchen, mir meinen Lebensunterhalt auf andere Weise zu beschaffen. Ich stahl, ich muss es wirklich zugeben, hier einen Apfel, dort einen Kelch Wein und schlief, in einige Decken eingehüllt, auf der Straße. Dort wurde ich schliesslich von Haimamud ibn Darshal aufgelesen, dem Anführer einer örtlichen Diebesbande. Dies war zwar nicht die Art Gesellschaft, die ich mir erträumt hatte, aber wenigstens bekam ich nun ein Dach über den Kopf und jeden Tag eine sichere Mahlzeit. Natürlich musste ich für Haimamud Botendienste und kleinere Diebstähle erledigen. Ich lernte schnell die wichtigsten Leute der Khunchomer Unterwelt kennen und konnte mich bald leicht anpassen. Doch hielt mein „Glück“ nicht lange an.
Zwei von Haimamuds Gefährten, Faramud und Zuleyman, über die es sich nicht lohnt, weitere Worte zu verlieren, planten einen Einbruch bei einem Emir von Fasar. Haimamuds Aktivitäten waren nämlich nicht nur auf
Khunchom beschränkt, was den Groll rivalisierender auswärtiger Banden auf ihn sicher, gelinde gesagt, nicht gerade gemildert hat. Die beiden erzählten mir, sie wollten mich in dieses Verbrechen mit einbeziehen und mich natürlich auch am Gewinn beteiligen. Dieser Einbruch war, davon bin ich heute überzeugt, mit Sicherheit nur ein Vorwand, mich aus dem Weg zu räumen, denn die beiden Gauner hatten aus mir unbekannten Gründen Angst vor mir. Dies zeigten sie natürlich nicht, aber ich sah des öfteren die hasserfüllten Blicke, die sie mir zuwarfen. Ach, hätten mich diese doch misstrauisch gemacht, aber meine Leichtgläubigkeit ließ mich auf ihr Angebot eingehen.
Meine Aufgabe war es, in das Haus zu schleichen, die Kommode des Emirs zu öffnen und den Schmuck daraus zu entwenden, während Faramud und Zuleyman jeweils einen Eingang des Hauses bewachten. Ich hatte Ähnliches schon ein paarmal getan, und die Aufgabe erschien mir nicht zu schwierig. Als ich mich jedoch mit der Beute mitten im Zimmer mit der offenen Kommode befand, tauchte plötzlich die Stadtwache von Fasar auf. Ich hatte keine Chance mehr, einen Fluchtweg einzuschlagen, denn auch an den Fenstern tauchten Wachen auf. Von meinen beiden „Gefährten“ fehlte verständlicherweise jede Spur.
Dies geschah am 12. Tag der Rahja des Jahres 1023 nach Bosparans Fall.
Die Gerichtsverhandlung war kurz; ich wurde ziemlich schnell für schuldig befunden und zu fünf Jahren Kerker verurteilt. Zu einer so langen Gefängnisstrafe kam es in meinem Fall jedoch nicht.
Am 21. Tag der Rahja, also nur eine Woche später, hörte ich in meiner Zelle eine mir unbekannte Stimme.
„Hallo!“ Die Stimme gehörte nicht zu einem der Wärter, denn sie war weiblich und erschien mir wie Balsam für meine Ohren. Sie kam aus einer Außenmauer des Kerkerturms, wo sich ein kleines vergittertes Fenster befand, das jedoch zu hoch lag, als dass ich es hätte erreichen, geschweige denn hinausschauen können. Die Person, zu der die Stimme gehörte, ließ mir jedoch keine Zeit, mich zu wundern.
„Hallo, bist du taub?“
„Nein“, antwortete ich nicht zu laut, um meine Wächter nicht zu aufmerksam zu machen. „Wer bist du?“
Ohne auf meine Frage zu antworten, wurde mir ein langes Seil in meinen Kerker hinuntergelassen. „Na los, nimm das Seil und komm rauf!“
Da ich nicht genau wusste, wie ich durch die Gitter des Fensters kommen sollte, stammelte ich: „Aber… wieso denn?“
„Idiot“, kam die wütende Antwort, „nun frag nicht so viel und beeil’ dich, bevor jemand was merkt! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!“
Schließlich ergriff ich das Seil, kletterte an der Wand zum Fenster hinauf und erlebte dort meine erste Überraschung: die Gitter waren fein säuberlich herausgetrennt worden und lagen neben dem Fenster auf dem Boden.
Meine Retterin war die zweite Überraschung. Sie war ungefähr so groß wie ich, vielleicht ein oder zwei Jahre älter und trotz ihres etwas ungepflegten Äußeren von bemerkenswerter Schönheit. Sie trug Lederkleidung, die jedoch an einigen Stellen bereits eingerissen war. Ihr kurzes blondes Haar hing ungekämmt von ihrem Kopf herab und gab ihr einen Hauch von Verwegenheit.
Ohne weitere Worte zu verlieren, packte sie mich am Arm und zog mich mit sich durch mehrere Straßen und Gassen Fasars bis zu einer kleinen Scheune am Rande der Stadt. Wir liefen hinein und ließen uns erschöpft in das Stroh fallen.
Ich fragte sie, ob Haimamud, Faramud oder Zuleyman sie geschickt hätten, um mich zu befreien. Sie lachte nur und meinte, ich hätte wirklich keine Ahnung, was vor sich ginge.
Während wir so gemeinsam dort lagen, bemüht, uns ruhig zu verhalten, kamen wir uns langsam näher, und ich begann zu erkennen, dass sie wirklich zu einem anderen Geschlecht gehörte und was dies für mich bedeuten konnte.
In dieser Nacht hatte ich somit auch einen Grund, Rahja für meine Rettung zu danken. Es war tatsächlich das erste Mal, dass ich überhaupt mit Rahjas Teil der Welt in Berührung kam, und ich werde diese Nacht wohl nie mehr
vergessen können.
Doch meine Freude währte auch diesmal nur kurz. Bereits am nächsten Morgen wurden wir sehr unsanft geweckt. Die Stadtwache hatte uns entdeckt. Wir schreckten aus unserem Schlaf auf, waren augenblicklich wach und machten uns daran, aus dem kleinen Dachfenster, der einzigen Fluchtmöglichkeit zu verschwinden. Ich schlüpfte sehr schnell hindurch, meine Retterin folgte mir. Ich hörte kaum den unterdrückten Schrei, den sie ausstieß.
Als wir ein paar Meter gelaufen waren, brach sie hinter mir zusammen, und ich bemerkte den Pfeil, der aus ihrem Oberschenkel herausragte.
Ich wollte zurücklaufen, um ihr zu helfen und sie vielleicht in einem Tsa- oder Peraine-Tempel behandeln zu lassen, aber sie rief mir zu: „Lauf weiter, törichter Kerl, spiel nicht den Helden! Bring dich in Sicherheit, und kümmere dich nicht um mich. Lauf weiter! Lauf!“
Völlig verwirrt folgte ich ihrem Befehl, lief und lief, bis zum nächsten Tempel der auf meinem Weg lag, um dort Unterschlupf zu finden und sicher zu sein vor der Stadtwache. Dass dies ausgerechnet ein Tempel des Immerwährenden Horts der Hesinde war, muss eine der undurchsichtigen weisen Fügungen der Allwissenden gewesen sein.
So hatte ich nun nach meinen Schwestern zum nächsten Mal eine geliebte Person verloren. Dies scheint mein Schicksal zu sein, und so habe ich also beschlossen, mich von nun an ausschließlich den geistigen Freuden Hesindes zu widmen, da diese von allen Werten die dauerhaftesten sind.
Diese Entscheidung habe ich bis jetzt noch nicht bereut. Die fünf Jahre, die ich jetzt im Tempel verbracht habe, haben mich mehr gelehrt als die dreizehn Jahre davor.